"Ich glaube, wir müssen noch warten"


aus: Cantauw/Loy (Hrsg.): Mein Weihnachten II, Weitere 100 erlebte Geschichten

© 2011 Aschendorf Verlag, Münster

 

S. 201: Günter Breuer, "Ich glaube, wir müssen noch warten"



Der 24. Dezember

 

Der Gottesdienst war wie jedes Jahr am Heiligen Abend gegen achtzehn Uhr zu Ende. Peter und Klaus waren in der Kirche wie immer sehr aufgeregt und zappelig; still sitzen war noch nie ihre Stärke gewesen. Jetzt drängelten und schoben sie sich an dicken Mänteln und langen Stiefeln vorbei ins Freie. 
Endlich - hier draußen schnitt einem zwar der frostige Wind ins Gesicht, man konnte sich aber frei bewegen. Und das taten Peter und Klaus dann auch, sie rannten immer wieder voraus, so dass ihr Vater sie mehrmals ermahnen musste. Aber die Vorfreude auf die Bescherung war so groß, dass sie zu Beginn der Weidestraße einfach losrennen mussten. 
Ihre Beine wirbelten durch die Luft. Peter kam nur ganz kurze Zeit nach seinem großen Bruder an der Haustür an. Sie hatten rotgefrorene Nasenspitzen und ihre Wangen glühten wie Feuer. 
„Wetten, dass ich das Feuerwehrauto kriege, das ich mir gewünscht habe?", fragte Klaus seinen Bruder. 
„Ha, denk dran, was Mama gesagt hat, als wir nach der Sache am Kleinbahnschuppen nach Hause kamen", antwortete Peter. 
„Dieses Jahr werden die Weihnachtsgeschenke bestimmt mager ausfallen. Auch wenn das schon ein paar Monate her ist, das Christkind vergisst nichts, es schreibt alles in ein großes, goldenes Buch." 
„Hör dir den an", Klaus äffte seinen kleineren Bruder nach, „das Christkind schreibt alles in ein großes, goldenes Buch. Sag mal, spinnst du?, Christkind, Weihnachtsmann, das sind alles nur Märchen für kleine Babys, wie du eins bist." 
„Gar nicht", heulte Peter los, „Mama hat gesagt..." Weiter kam Peter nicht.
„Sagt mal, müsst ihr euch denn immer streiten? Heute ist Heiligabend, vertragt euch gefälligst!" 
Vater nahm die beiden Jungen beim Arm und hielt sie auseinander. In dieser Stimmung war es besser, sie mindestens drei Meter voneinander entfernt zu halten.

Im Haus hatten sich die beiden Streithähne wieder einigermaßen beruhigt. 
Jetzt nahm auch die Erwartung auf die Geschenke erneut die Oberhand bei ihren Gefühlen. 
Doch so sehr die beiden auch bettelten und nörgelten, wie jedes Jahr versammelte sich die Familie auch an diesem Abend in der Küche, um eine Kleinigkeit zu essen. 
Viel bekamen die Jungen nie runter, dazu waren sie zu aufgeregt. Und das war auch besser so, wo hätten sonst die vielen Süßigkeiten nachher noch Platz finden sollen?
Das Abendessen sollte also nicht lange dauern, und die guten Sachen auf dem Tisch wurden schon bald nicht mehr angerührt. 
„Ich will einmal nachsehen, ob das Christkind schon da war", unterbrach Vater das erwartungsvolle Schweigen und gab damit das Stichwort, auf das es jetzt richtig losgehen sollte.
Vater stand auf und ging über den kleinen Flur zur Wohnzimmertür. Dort blieb er einen Moment stehen und lauschte gespannt. Er drehte sich zu den Kindern um und gab mit der Hand ein Zeichen, was so viel bedeuten sollte wie: Abwarten, ich schaue einmal nach. 
Peter sah seinen Bruder von der Seite her an. 
„Komisch", flüsterte er, „wenn es das Christkind deiner Meinung nach nicht gibt, dann brauchst du doch nicht so aufgeregt zu sein." 
Anstatt einer Antwort bekam Peter einen Rippenstoß, dass er sich das Fluchen unterdrücken musste. Ihre Mutter sah die beiden Streithähne strafend an. In der Zwischenzeit war Vater im Wohnzimmer verschwunden. Die Spannung stieg, nichts regte sich mehr. Alle Augen starrten gebannt in Richtung Wohnzimmertür. 
Und dann geschah es. Es kam wie es kommen musste!  Vater hatte anscheinend das Christkind bei seinen letzten Vorbereitungen gestört, denn die Wohnzimmertür wurde aufgerissen, Vater stürmte heraus und zog die Tür hinter sich zu. 
Doch noch bevor die Tür zuschlug, flogen zwei oder drei Walnüsse dicht an Vaters Kopf vorbei auf den kleinen Flur. Sie knallten an die gegenüberliegende Wand und streuten ihre zerbrochenen Schalen über den ganzen Fußboden. 
Vater hielt beide Hände schützend an den Kopf, rannte in die Küche und keuchte: 
„Ach du meine Güte, das ist ja noch mal gut gegangen. Ich glaube, wir müssen noch einen Moment warten!" 
Die Jungen schauten ihren Vater ängstlich an. 
„Nein, nein", beruhigte Vater sie, „das Christkind meint es schon gut, es hat auch etwas gebracht. Wir sollen nur warten, bis es die Weihnachtsmusik angeschaltet hat, dann können wir hereinkommen." 

Und noch ehe Peter und Klaus aufatmen konnten ertönte aus dem Wohnzimmer ´Stille Nacht, heilige Nacht'. 
„Jetzt", forderte Vater die Kinder ermunternd auf, „jetzt ist es Zeit." 
Wie auf Kommando sprangen die beiden Jungen auf und rannten zum Wohnzimmer. 
Doch an der Tür blieben sie stehen und drehten sich zu ihren Eltern um. Keiner traute sich, den Türgriff runter zu drücken. Selbst Klaus, der immer so vorlaut war und alles konnte, hatte keinen Mut. Vater griff über ihre Köpfe hinweg, drückte den Türgriff hinunter und stieß die Tür weit auf. 

Ein hell erleuchteter Weihnachtsbaum strahlte ihnen entgegen. Der ganze Raum war erfüllt von silbrigem Glänzen, das sich in den Augen der Kinder widerspiegelte. 
Und das Wichtigste - unter dem Baum waren Berge von Geschenken aufgestapelt, die in buntes Weihnachtspapier, mit wundervollen Schleifen verziert, eingepackt waren. 
„Ah", staunten die Jungen wie aus einem Mund. Und als ob es das Signal gewesen wäre, stürmten sie los und machten sich über die Geschenke her. 
Buntes Papier flog in Fetzen durch die Luft und lautes Rufen und Lachen übertönte die doch so besinnliche Weihnachtsmusik.

Auch dieses Weihnachtsfest verlief also ganz normal: Pakete wurden ausgepackt, die geschenkten Kleidungsstücke beiseitegelegt und mit den Spielsachen gespielt, dazu Süßigkeiten in Mengen genascht, bis die Müdigkeit Peter und Klaus übermannte. 
Die beiden wurden zu Bett gebracht und schliefen in der Gewissheit ein, morgen einen herrlichen ersten Weihnachtsfeiertag zu verbringen.