Leseprobe "Der Räuber" (Karneval)

- Wildpferde (Peter-Geschichten)


Der Räuber

 

Rosenmontag. Schulfrei, ein Tag zum Ausschlafen!
Man konnte noch etwas länger als sonst im Bett liegen bleiben, ein wenig mit seinem Kuscheltier schmusen oder seinen Gedanken nachhängen.
Peter träumte vom Rosenmontagumzug heute Nachmittag, bei dem seine ganze Familie zuschauen wollte. Selbst Papa hatte sich dafür einen halben Tag freigenommen.

 

Draußen schien kein schönes Wetter zu sein.
Durch einen Spalt in der Jalousie fiel nur ein dünner Streifen mattes Licht in sein Zimmer.
Peter hatte noch keine Lust aufzustehen, er wollte lieber noch etwas mit offenen Augen träumen.

 

Doch da geschah etwas Sonderbares! Aus dem Augenwinkel bemerkte Peter, dass seine Zimmertür sich leicht bewegte, obwohl sein Fenster doch geschlossen und gar kein Luftzug zu spüren war! Er ahnte es mehr, als dass er es sah:
Der Türspalt wurde langsam breiter und breiter!
Plötzlich schielte durch das Halbdunkel eine grässlich verzehrte Fratze ins Zimmer und starrte ihn aus funkelnden Augen an. Eine mit Warzen besprenkelte Nase nahm einen großen Teil des Gesichts ein. Darunter klappte ein riesiges Maul auf und zu, als ob es allen kleinen Kindern dieser Welt Angst einjagen wollte. Das Ganze war umrahmt von einem wirren Wuschel aus roten Haaren, der in alle Richtungen abstand, als ob das Gesicht mit elektrischem Strom in Berührung gekommen wäre. Über dem Gesicht thronte ein riesiger Schlapphut mit einer aufgesteckten Feder.

 

Peter riss die Bettdecke über den Kopf und schrie aus Leibeskräften:
„Hilfe! Einbrecher, Räuber! Mama, Mama, hilf mir doch! Der Räuber will mich holen.“
Als er keine Kraft mehr zum Schreien hatte, lauschte Peter durch die Bettdecke hindurch. Aber er hörte nichts, kein Säbelrasseln, kein Knurren, kein Grunzen und Schmatzen, wie das bei Räubern so üblich ist. Doch da - ganz leise vernahm er ein Geräusch wie Zähneklappern. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, er wagte kaum zu atmen. Nach einer Ewigkeit bemerkte Peter, dass das leise Geräusch wohl von seinen Zähnen herrührte, die zitternd aufeinanderschlugen.

 

Peter war kein Angsthase! „Nein, ganz bestimmt nicht!", dachte er laut. Er hatte schon so oft beim Spielen die Bösewichter in die Flucht geschlagen. Dazu hatte er ja sein Darth-Vader-Schwert, das er im letzten Jahr auf der Kirmes bekommen hatte. Sein Vater war zwar anfangs dagegen. Aber Peter konnte gut betteln und hatte seinen Vater dabei mit seinen großen Augen so lange angefleht, bis dieser schließlich weich geworden war und klein beigegeben hatte. Peter bekam sein Schwert.

 

Jetzt lag es auf seinem Schreibtisch, das wusste er. Dort lag es immer, griffbereit für unvorhersehbare Fälle wie diesen hier. Peter hob vorsichtig die Bettdecke etwas an, spitzte die Ohren und - hörte nichts. Das war der richtige Zeitpunkt! Er riss die Bettdecke zur Seite, sprang aus dem Bett und stürzte zum Schreibtisch. Wie von selbst hatte er sein Darth-Vader-Schwert in der Hand und - fühlte sich anders! Er glaubte auf einmal, viel größer und vor allem viel stärker zu sein. Jetzt konnte er es mit jedem Räuber aufnehmen!
„Wo bist du? Komm her, wenn du dich traust!" Mit diesen Worten wirbelte Peter herum und wollte sich dem Eindringling stellen. Aber da war niemand!
„Feigling! Hast dich wohl verdrückt? Na warte, ich finde dich schon!"
Schreiend rannte er los und riss die Tür zum Flur auf. Aber da war auch niemand. Der Flur lag friedlich da wie immer.

 

Die Küchentür! Wenn er nicht nach draußen geflohen war, musste er sich in der Küche versteckt haben!
„Na warte, dich hab´ ich gleich!", brüllte Peter und rannte mit hocherhobenem Schwert Richtung Küchentür. Noch bevor er die Klinke in die Hand nehmen konnte, wurde die Tür von innen geöffnet, und - Peter prallte mit seiner Mutter zusammen.
„Sag mal, was ist denn mit dir los?", schimpfte Mutter. „Du schreist ja, als wäre der leibhaftige Teufel hinter dir her!"
Mit einer Hand hielt sie den zappelnden Peter fest und mit der anderen bekam sie gerade noch das Darth-Vader-Schwert zu fassen, bevor die Spitze die teure Vase aus dem Regal neben der Tür fegen konnte.
„Aber Mama, ich bin doch hinter dem Räuber her. Der muss doch hier vorbeigekommen sein! Zum Glück hat er dir nichts getan. Aber ich werde ihn schon kriegen! Lass mich bitte los!"
Peter versuchte, sich mit all seiner Kraft loszureißen. Doch seine Mutter hatte ihn fest im Griff.
„Stopp, mein Sohn, jetzt mach aber mal halblang. Hier gibt es erstens keinen Räuber, und fuchtele du nicht so mit dem Ding da rum, sonst passiert noch ein Unglück!"
Als Peter sich wieder etwas beruhigt hatte, ließ Mutter ihn los und meinte:
„So, nun leg erst mal dein Schwert beiseite, setz dich an den Tisch und trink ein Glas Milch zur Beruhigung."
Peter war noch nicht vollständig überzeugt, legte jedoch das Schwert auf einen Stuhl und setzte sich auf seinen Platz am Küchentisch. Mutter schüttete ihm ein Glas Milch ein und holte auch noch einen kleinen Teller mit Plätzchen.
„Lass es dir schmecken!"
Mutter nahm auch ein Plätzchen und lächelte Peter an.
„Danke, Mama," meinte dieser und setzte das Glas mit Milch an die Lippen.
Die Milch würde ihm gut tun!

 

Doch im selben Moment sprang Peter mit einem entsetzten Gesichtsausdruck auf und verschüttete dabei die ganze Milch über den Küchentisch.
„D-d-da, Mama, da ist der Räuber!", schrie Peter und zeigte ganz aufgeregt in Richtung Treppe, die nach oben führte.
„Ich nehme mein Schwert, hol du dir den Besen, und dann vertreiben wir ihn!"
Mit einem Satz war er auf, nahm sein Schwert vom Stuhl und wollte sich in den Kampf stürzen. Als Peter schon auf zwei, drei Schwertlängen dem Räuber nahe war, fasste dieser anstatt an seine Waffe an seinen Hut und zog mit einem Ruck gleichzeitig den Hut und seine Maske vom Gesicht. Zum Vorschein kam  - sein Bruder Klaus. Mit erhobenem Schwert blieb Peter wie angewurzelt stehen und stotterte:
„Klaus, du - als Räuber verkleidet?! Ich dachte, du wolltest dieses Jahr als Pirat zum Karneval gehen?"
Als auch Klaus sich von seinem Schreck erholt hatte, verzog er sein Gesicht zu einem kleinen Lächeln und sagte schmunzelnd:
„Wollte ich ja auch, aber da ist mir eingefallen, dass du dich so für Räubergeschichten interessierst. Und der kleine Spaß mit dem tollen Räuberkostüm ist mir heute Morgen doch gelungen, oder?"

 

Innerlich kochte Peter vor Wut. Er ließ es sich aber nicht anmerken,
sondern senkte sein Schwert und drohte:
„Kleiner Spaß! Na warte, im nächsten Jahr bist du dran! Da werde ich mir was ausdenken. Von dem Schrecken wirst du dich dann nicht so leicht erholen!"
„Nun mal langsam, Peter," schlichtete Mutter, bevor es noch zu einem richtigen Streit zwischen den beiden kommen konnte.
„Klaus ist schließlich dein Bruder und nicht wirklich ein fremder Räuber. Verkleide du dich jetzt auch, wir wollen gleich zum Umzug gehen!"
Das ließ Peter sich nicht zweimal sagen. Schon nach ein paar Minuten stand er als Darth Vader in der Küche.

 

Das Wetter hatte sich zum Guten geändert, und sie erlebten gemeinsam und friedlich einen tollen Rosenmontagumzug. Die vielen Räuberkostüme unter all den Indianern, Cowboys, Prinzessinnen und Elfen interessierten Peter nicht im Geringsten. Ein kleiner Darth Vader sammelte Bonbons, so viele er tragen konnte.