(Leseprobe) "Wildpferde"


Teil 1

Phantasiebegabter Junge erlebt alltägliche Abenteuer!
Langeweile ist in Peters Kindheit und Jugend lediglich ein Zustand von kurzer Dauer, den er von Zeit zu Zeit überbrücken muss. Aber auch dann weiß er sich mit den kleinen Dingen in seiner Umgebung zu beschäftigen - an Phantasie mangelt es ihm nie!

 

Teil 2

Von hier an lernen wir einen Peter kennen, der den Kinderschuhen entwachsen ist.
Natürlich hat er keinen Deut seiner Fantasie eingebüßt. Eher das Gegenteil ist der Fall!
Seine Fantasie reicht weit über die ihn umgebenden Grenzen hinaus.
Als junger Erwachsener hat er natürlich auch mehr Verantwortung für sein Tun zu übernehmen!

Er stellt sich seinen Aufgaben, das darf schon vorweg verraten werden!




 

Wildpferde

 

 

 

Es gab keine Bessere, das stand nun einmal fest. Westlich des Mississippi war Adlerauge die beste Rothaut weit und breit. Er kannte sich aus in seinen Jagdgründen, wusste die Spuren der Büffel zu lesen und war ein sehr guter Anführer.
Auch jetzt waren sie wieder unterwegs, um Fleischvorräte für den langen, kalten Winter zu jagen. Eine kleine Gruppe von Sioux-Indianern, angeführt von dem jungen Häuptlingssohn Adlerauge, schlich durch das hohe Steppengras und hatte die Fährte von nahezu einhundert Büffeln ausgemacht. 
Ihre kleinen, zähen Ponys wurden etwa fünfzig Schritt hinter ihnen von einem Indianer geführt. 
Die Büffel mussten diesen Weg am Fluss erst vor kurzer Zeit langsam grasend dahingezogen sein. Das Gras lag zum größten Teil noch flach am Boden, die Trittränder der Hufe waren gerade, glatt und noch nicht völlig von der sengenden Sonne getrocknet. In der Ferne hörte man leise, stampfende Geräusche. Der Wind trieb ihnen den scharfen, unverkennlichen Büffelgeruch in die Nase. 
Endlich wäre das Fortbestehen ihres Stammes über den nächsten Winter gesichert: Frisches Fleisch, warme Felle und was die Frauen des Stammes noch alles aus diesen wunderbaren Tieren herstellen konnten. Es gab kaum Abfall, fast alles wurde verwertet.

 

Adlerauge stieß einen leisen, jedoch durchdringenden Pfiff aus, und kurze Zeit später waren ihre Ponys bei ihnen. Mit elegantem Schwung waren sofort alle auf ihren Pferden und jagten schon in gestrecktem Galopp über die Prärie, der aufschreckenden Büffelherde entgegen. Es würde einen kurzen, unfairen Kampf geben, denn seitdem die Sioux ihre Feuerwaffen hatten, gab es für die Büffel kaum eine reale Chance. Aber sie hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, nur so viele Tiere zu erlegen, wie sie für den Winter benötigten.
Wieder war Adlerauge als einer der ersten gleichauf mit den letzten Tieren der Herde. Er setzte sich leicht aufrecht hin, indem er seine Oberschenkel in die Seiten des Ponys drückte und die Füße nach außen wegspreizte, balancierte sein Gewicht aus und zielte - als er einen kräftigen Schlag an der rechten Schulter verspürte. Das Gewehr fiel ihm aus der Hand...

 

...und Peter setzte sich aufrecht hin. Er blinzelte in die Sonne. Wo war er, und was war geschehen?
„Peter", war eine Stimme zu hören, „sag mal, träumst du?"
„Ja, ich...", stammelte Peter noch ganz benommen. Er stützte sich im Gras ab, berührte dabei sein geschnitztes Holzgewehr und fand mit einem Schlag in die Wirklichkeit zurück.
„Hallo! Da seid ihr ja endlich. Na, dann kann's ja losgehen."
Sie wollten an diesem Nachmittag, wie so oft, Indianer spielen. 
Peter war wie gewohnt früher fertig als die anderen und hatte sich an ihrem Treffpunkt etwas ins warme Gras gelegt. Dabei musste er wohl eingeschlafen sein und seinen schönsten Traum geträumt haben. 
Ihr Treffpunkt lag hinten in der Lärche. Es war der Platz unter der Trauerweide, hufeisenförmig, etwas tiefer als die Umgebung gelegen und nach drei Seiten von einer bewachsenen Bruchsteinmauer umringt. An der tiefsten Stelle befand sich eine in die Mauer eingearbeitete Quellnische. Nach starken Regengüssen konnte es vorkommen, dass aus dieser Quelle ein kleines Rinnsal rostroten Wassers plätscherte, um kurz darauf wieder im Mauerbereich zu versickern.
Wenn sie, wie heute, nur zu dritt waren, wurde es nichts aus dem Cowboy- und Indianer-Spiel, dann entschieden sie sich meist nur für Indianer
Klaus und Detlef hatten, wie Peter auch, ihre selbstangefertigten Waffen mitgebracht, Pfeil und Bogen, geschnitzte Messer, Pistolen und Gewehre. Es war ein gutes Gefühl, das Gewicht des schweren Holzgewehres in der Hand zu spüren. Peter fühlte sich stark, er war der Häuptlingssohn Adlerauge.

 

Der Kriegsrat war schnell gehalten. Der erste Angriffsplan galt den Bleichgesichtern auf der anderen Seite des Baches, die es gewagt hatten, mitten in ihre Jagdgründe hinein einen Schienenstrang zu legen. 
Von Zeit zu Zeit wurde die Ruhe der endlosen Prärie jäh durchschnitten von dem nervtötenden Poltern und Quietschen des eisernen Rosses, welches an feste Schienen gebunden ihre Pfade kreuzte und ihnen die Büffel verjagte. 
Diesen Bleichgesichtern sollte jetzt der Garaus gemacht werden. 
Lautlos und in wenigen Sätzen waren die drei Rothäute über den Bach hinweggesetzt und kauerten sich nun an den Rand der Böschung. 
Da waren sie, zwei Vertreter dieser weißen Rasse. Sie befanden sich auf der anderen Seite der Schienenstränge und gingen geschäftig hin und her. Ihre Tätigkeiten waren nicht näher auszumachen, doch handelte es sich sicherlich um verachtenswerte Dinge, die ein Indianer vom Stamme der Sioux nie auch nur in Betracht ziehen würde.
Peter sah seine Blutsbrüder von der Seite an und raunte: 
„Bei drei geht's los. Ich möchte Indianergeheul hören, so laut es geht. Denen da drüben soll das Blut in den Adern gefrieren. Howgh, ich habe gesprochen! Eins, zwei...", und bei drei waren sie oben, stürmten auf die beiden Bahnarbeiter zu und feuerten aus allen Rohren. 
Im Nu waren sie bei den Schienen, sprangen geschickt darüber hinweg und hatten den Abstand zwischen sich und dem Feind auf knappe dreißig Schritte verkürzt.
„Uuaah!!! Ergebt euch! Ihr seid des Todes!" 
Mit diesem markerschütternden Kriegsgeheul sollte die Entscheidung erzwungen werden. Doch so einfach sollte es nicht gehen. Ihre Feuerwaffen zeigten bei den verflixten Bleichgesichtern keine Wirkung. 
Im Gegenteil, jetzt nahm einer von ihnen sogar, todesmutig wie er war, einen Besen, schwang ihn über dem Kopf und stellte sich ihnen zum Kampf.
„Fall um, du bist tot, merkst du das denn gar nicht?!", Klaus schrie aus Leibeskräften.
„Das andere Bleichgesicht ist auch gleich dran!" 
Doch anstatt den Rückzug anzutreten oder sich in Ehren zu ergeben, griffen die Bahnarbeiter ihrerseits an. 
Peter, Klaus und Detlef waren gezwungen, einen Ausfall nach rechts zu machen, sonst wären sie unweigerlich in den Feuerbereich dieser fürchterlichen Waffen der Weißen geraten und verloren. In solchen Situationen zeigte sich der lebenserhaltende Instinkt der Indianer. Anstatt blindlings in ihr Verderben zu rennen, traten sie wohlweislich den Rückzug an und zogen sich zur Beratung in ein sicheres Versteck zurück.

 

So schnell sie ihre Mokassins trugen, rannten die drei Freunde in Richtung „Hölzerne Höhlen". Keuchend und prustend kamen sie dort an, zwängten sich durch einen schmalen Eingangsspalt und kauerten sich in die hinterste finstere Ecke. 
Die „Hölzernen Höhlen" befanden sich auf einem Fabrikgelände etwas abseits vom Bahndamm. Hier kam nur selten jemand hin. Und wenn man nicht beim Betreten gesehen worden war, dann konnte man sich in Sicherheit fühlen. 
Es waren eigentlich keine richtigen Höhlen, sondern riesige Transportkisten aus Holz, die hier gelagert wurden.
„Mensch, wir haben vergessen, eine Wache aufzustellen! Wenigstens für fünf Minuten, bis wir sicher sein können, dass niemand kommt." 
Klaus war es, der das kurze Schweigen brach. Er stieß Detlef an, und dieser schob sich leise murrend zum Spalt. Detlef spähte hinaus, klopfte leise an die Kiste und war verschwunden.
„Los", flüsterte Peter, „lass uns eine schmauchen. Sieh mal, ob du Tobacco findest. Ich habe ein paar Sticken zum Anzünden da." 
Klaus saß näher am Ausgang, legte sich flach auf den Boden, langte mit der Hand hinaus und hatte anscheinend, was er suchte. 
Peter hörte ihn rupfen. dann zog Klaus die Hand wieder ein, hielt sie in die Höhe und grinste Peter triumphierend zu. 
Im Halbdunkel konnte Peter erkennen, dass Klaus das Richtige gefunden hatte, ein paar dicke, vertrocknete Grashalme. 
Peter hatte in der Zwischenzeit seine Streichhölzer herausgefummelt, riss eines an und hielt es Klaus entgegen. Scharfer, beißender Qualm stieg auf, als Klaus einen Halm in die Flamme hielt und daran zog.
Peter tat das gleiche und fluchte auch schon los: „Mist, das brennt wie Teufelsdreck! Ich werde mich nie ans Rauchen gewöhnen." 
Hustend ließ er das noch brennende Streichholz fallen und trat es schnell aus, hier drinnen konnte man nie wissen.
„Was ist denn hier los? Man hört euch ja bis nach Texas." 
Das Gesicht von Detlef erschien im Eingangsspalt. Er sah seine schmauchenden Blutsbrüder, ließ seine Wache Wache sein und saß in weniger als einer halben Minute neben ihnen. 
Mit Todesverachtung wurde ein Feuerholz nach dem anderen zu Asche geraucht. Mit Tränen in den Augen und kratzendem Hals ließ sich besonders gut von vergangenen Heldentaten erzählen. Nur die zuletzt erlittene Niederlage gegen die zwei übermächtigen Bleichgesichter erwähnte niemand.

 

Ganz in der Nähe knackte ein Zweig! Die drei Krieger vergaßen, an ihrem Feuerholz zu ziehen. Jetzt schien ihnen das Blut in den Adern zu gefrieren. Waren das die Bleichgesichter von vorhin und wollten nun ihre Rache? Oder, was in diesem Moment noch schlimmer war, waren es Arbeiter von der Firma, auf deren Gelände sie sich verbotenerweise aufhielten? 
Keiner wagte auch nur zu atmen. An Flucht war nicht zu denken, die „Hölzerne Höhle", in der sie sich gerade befanden, hatte keinen zweiten Ein- oder (besser!) Ausgang. Daran hatten sie nicht gedacht. Das war's, unehrenhafter Angriff auf zwei Bleichgesichter, verbotener Aufenthalt auf Privatgrund und nichterlaubter Gebrauch von Feuerholz, ganz zu schweigen von unerlaubtem Waffenbesitz. Die Strafe würde grauenvoll sein, mindestens der Marterpfahl in Form von Taschengeldentzug oder Stubenarrest war zu erwarten. 
Sie machten sich auf das Schlimmste gefasst.
Doch dann pochte es leise dreimal an die Holzkiste. Das Signal kannten sie, es musste einer von ihnen sein! 
Dann fiel ihnen ein Stein vom Herzen, den man fast hören konnte.
Es war Werner, der kurz darauf vor dem Eingang stand und spottete: 
„Na, ihr, hier stinkt es ja, als ob ihr einen Steppenbrand entfacht hättet. Was qualmt ihr denn mal wieder für ein Kraut?"
„Werner", hustete Peter hervor, „du hast uns vielleicht erschreckt! Was machst du hier, wie hast du uns überhaupt gefunden? Erzähl mal!"
Werner setzte sich zu ihnen und meinte: 
„Ein Wunder, dass man euch noch nicht erwischt hat! Jeder im Umkreis von zwei Meilen muss einfach wissen, was ihr hier treibt. Jetzt seid mal ein bisschen leiser, wie sich das für vernünftige Rothäute gehört und seht her, was Häuptling Starker Büffel seinen Blutsbrüdern mitgebracht hat." 
Er steckte zwei Finger seiner rechten Hand in die linke Brusttasche seines Hemdes und zog doch tatsächlich mit einer verschwörerischen Geste eine echte Schachtel „Eckstein" hervor, eine Probeschachtel mit echten Zigaretten.
„Mann, das gibt es doch nicht! Du bist uns herzlich willkommen, Blutsbruder. Los, mach schon, verteil die Sargnägel. Nach dem Kraut von eben haben wir Schmacht auf so etwas, das kannst du gar nicht glauben." 
Peter hatte anscheinend seinen vorhin ausgesprochenen Verzicht auf das Rauchen vergessen und war einer der ersten, der zulangte. 
Es reichte gerade. In der Schachtel waren vier Glimmstängel, eine Werbepackung also, die der alte Stemmer den Jungen von Zeit zu Zeit zusteckte. Aber sie kam wie gerufen. Genüsslich lehnten sich die vier zurück und pafften oder inhalierten, je nach Erfahrungswerten und Können.
Neue Kraft sammelte sich in ihren Muskeln. Die Köpfe waren zwar etwas benebelt, aber ihr indianisches Blut wallte erneut auf. Es musste gehandelt werden. Vier Indianer vom Stamme der Sioux konnten es mit jedem aufnehmen.

 

Plötzlich flüsterte Klaus: „Seid mal still, ich höre etwas." 
Und richtig, jetzt hörten es alle. Es war das Kreischen und Rumpeln vom Feuerross der Weißen, das sich einen Weg durch ihre Jagdgründe bahnte, ihre Kriegspfade durchschnitt und die Büffel vertrieb.
Peter sprang auf, trat das schon angekokelte Filter seiner Zigarette aus und rief: 
„Mir nach, Brüder, zahlen wir es diesen stinkenden Bleichgesichtern heim! Vertreiben wir sie mitsamt ihrem Feuerross aus unseren Weidegründen, das sind wir unseren Vätern schuldig!"
Einstimmiges Indianergeheul erhob sich, und der Eingangsspalt war zu schmal für alle vier Krieger auf einmal. Als sie sich endlich nacheinander durchgezwängt hatten, übernahm Peter wieder das Kommando.
„Los, mir nach!", rief er erneut, zeigte mit dem Lauf seiner Holzflinte in Richtung Bahndamm und rannte los. 
Die anderen drei blieben ihm dicht auf den Fersen, nach dem Motto: Einigkeit macht stark! 
Am Bahndamm angelangt, warfen sie sich nebeneinander ins Gras und spähten die Gleise entlang in Richtung Mergelhaufen, von wo aus sich das feindliche Gefährt ruckelnd näherte. Sie waren nur wenige Meter von den Schienen entfernt und hatten ein gutes und freies Schussfeld vor sich. Gleich würde hier die Hölle los sein. Solch ein Massaker hatte es westlich des Mississippi noch nicht gegeben. Die Nachfahren dieser vier tapferen Krieger würden sich von dieser Heldentat noch Generationen nach ihnen an den Lagerfeuern erzählen. 
Ein Grinsen machte sich auf Peters Gesicht breit. Er schielte zu Klaus hinüber, auch ihm war der Siegeswille auf die Stirn geschrieben. Gleich würde es so weit sein! 
Doch was war das? Peter verspürte den unvermeidlichen Drang, Wasser lassen zu müssen. Pinkeln, jetzt, in diesem alles entscheidenden Augenblick?! Nur das nicht! 
Der Druck wurde immer schlimmer, jetzt drückte es auch in den hinteren Regionen seines Körpers. Ob das an der Zigarette lag? Peter stöhnte leise. Nur jetzt nicht schlapp machen, dachte er. Das war heute nicht sein Tag.
„Was ist", fragte Detlef, „was hast du?"
„Ich muss zur Toilette", gab Peter zu, „ich kann nicht mehr."
„Halte ja durch, wir brauchen dich."
Das war ein Argument zum Durchhalten, so schwer es auch fiel. 
Peter biss sich auf die Unterlippe und kniff die „Gesäßwangen" zusammen. 
Das Feuerross kam langsam näher, viel zu langsam. 
Es war nur noch ungefähr fünf Längen von den lauernden Kriegern entfernt, als Peter, alias Adlerauge, der tapfere Häuptlingssohn, es nicht mehr aushalten konnte, sich hochstemmte, wie ein Sprinter aus den Startlöchern losschnellte und mit wenigen Sätzen vor den feindlichen Augen die Gleise überquerte. Schnell ein paar ungezielte Schüsse in Richtung Feuerross abgegeben, den verdutzten Freunden ein jammerndes „Ich-kann-nicht-mehr!" zugerufen und schon war er in der gegenüberliegenden Mulde verschwunden und auf dem schnellsten Weg nach Hause.
Was hinter ihm geschah, das interessierte Peter herzlich wenig. 
Er hatte nur ein Ziel vor Augen, die heimatliche Toilette. 
Zwar hatten sie manchmal auch die "Hölzernen Höhlen" für derlei Geschäfte benutzt, sind davon aber schnell wieder abgekommen, als Peter selbst einmal unliebsamen Kontakt mit seinen eigenen Exkrementen bekommen hatte.

 

Zu Hause angekommen hatte er endlich einmal Glück, die Kellertür stand auf, und somit war der Weg zur Erlösung frei.
„Warum hast du es denn so eilig?" 
Seine Mutter stand in der Waschküchentür, hatte die Hände in die Seiten gestemmt und sah ihn erwartungsvoll an.
„Ich muss", stöhnte Peter nur und war schon auf der Toilette verschwunden. 
Nach endlosen, jedoch heilsamen Minuten öffnete sich die Toilettentür, und ein neuer Peter trat mit zufriedenem Gesichtsausdruck in den Kellergang.
„Na, das hat ja gerade noch geklappt", hänselte seine Mutter. 
„Aber komm mal etwas näher. Hast du ein neues Parfüm aufgelegt?" 
Mit diesen geheimnisvollen Worten packte sie Peters linkes Ohr und zog ihn näher zu sich heran. 
Adlerauge traten erneut die Tränen in die Augen. Was war denn jetzt schon wieder los? Seine Mutter kam mit ihrer Nase seinem Mund bedrohlich nahe.
„Hauch mich mal an", sagte sie schneidend. „Hast du etwa wieder geraucht?" 
Ihre Stimme nahm an Lautstärke zu - und schon war es geschehen, drei, vier kräftige Schläge landeten klatschend auf seinem Hosenboden. 
Heulend versuchte Peter, sich aus dem Griff seiner Mutter zu winden. Doch je mehr er sich bewegte, desto länger wurde sein Ohr gezogen. 
Und wieder landeten ein paar Schläge auf seinem Hosenboden. 
Rauchen war also doch ungesund! 
Endlich gelang es ihm, sich loszureißen. Mit schmerzverzerrtem und wütendem Gesicht verschwand er aus der Kellertür.
„Warte nur, wenn du heute Abend nach Hause kommst, dann setzt es noch eine Tracht!", hörte er seine Mutter hinter sich herrufen. 
Doch das war in diesem Augenblick unwichtig, nur vorläufig erst einmal weg aus der Gefahrenzone und hin zu seinen indianischen Blutsbrüdern.

 

„Verdammt, mein Gewehr!", fluchte Peter laut, als er am oberen Ende der Lärchenstraße angelangt war. Er hatte in der Eile sein Holzgewehr auf der Toilette vergessen. Das sollte jedoch nicht das Schlimmste sein!
Als er die Straße hinunterblickte, sah er einen Blutsbruder im wahrsten Sinne des Wortes auf sich zu torkeln. Wie eine echte Rothaut, jedoch mit Blut verschmiert und jämmerlich schreiend kam Klaus auf ihn zu. Aus einer tiefen Platzwunde am Kopf sickerte Blut, zog ein erschreckend breites Rinnsal über sein Gesicht, tropfte von der Nase auf sein Hemd und bildete bei jedem erneuten Heulton platzende Blasen vor seinem Mund.
„Mama, Mama, komm schnell, Klaus blutet wie ein Schwein!", schrie Peter aus Leibeskräften. 
Seine Angst vor Schlägen war vergessen, jetzt gab es Wichtigeres zu bedenken. 
Die anderen, nun nicht mehr so mutigen Indianer, trotteten hinter Klaus her.
Ihre Mutter hatte das Geplärre wohl schon gehört, denn sie war sofort zur Stelle, nahm Klaus am Gartentor in Empfang und ging mit ihm ins Haus.

 

Was dann kam, das waren schrecklich lange Minuten für drei angeschlagene Sioux-Indianer, endlos langes Warten, ohne helfen zu können.
„Was ist passiert?", fragte Peter nach einiger Zeit mit leicht zittriger Stimme.
„Nun", fing Detlef an, „als du weg warst, waren wir nur noch zu dritt. 
Klaus wollte anscheinend deine Aufgabe auch noch übernehmen, sprang, als die Bahn da war, auf und ballerte aus allen Rohren. Auch als der Feind schon vorbei und erledigt war, hatte er wohl noch nicht genug, lief hinterher und stolperte dabei über eine Schiene. Mit dem Kopf schlug er dann auf der anderen Schiene auf. Das hält selbst der stärkste Indianerschädel nicht aus." 
Da hatte Detlef recht. Der Arzt kam und nähte Klaus' Kopf wieder zu. 
Kurz bevor Vater von der Arbeit kam, durften Peter, Detlef und Werner ihren angeschlagenen Blutsbruder in seinem Wigwam besuchen. 
Er lag da, etwas blass um die Nase und mit einem riesigen Turban auf dem Kopf.
„Jetzt siehst du nicht mehr aus wie Winnetou oder Old Shatterhand", scherzte Peter, „eher wie Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah."
Alle vier mussten lachen, doch Klaus nur kurz: 
„Wenn du auch nicht immer deine Stellung hältst, aber eines kannst du, Hadschi Halef Adlerau..." 
Weiter kam Klaus nicht, dann verzog er sein Gesicht, kniff die Augen zu und hielt sich den Kopf.
„Ein Gutes hat dein Unfall ja", flüsterte Peter, „ich hoffe, dass Mama darüber die Sache mit dem Rauchen vergisst." -
Drei etwas mitgenommene Sioux-Indianer schlichen sich still und heimlich vom Krankenlager ihres Blutsbruders davon. Vaters Kommentar am Abend lautete nur: 
„Na, ihr habt wohl wieder Wildpferde gespielt, was?!"

 



Über dieses Buch

 

Ein Peter, wie wir ihn als Protagonisten in den Geschichten „Wildpferde“ kennen lernen, steckt (oder steckte zumindest) in jedem von uns. Wer hat nicht schon einmal als Kind seine Hose zerrissen und anschließend „die Rechnung dafür kassiert“? Wer hat nicht seine ersten Rauchversuche mit Hölzern oder Gräsern gestartet und dafür derbe Prügel einstecken müssen, was tief in der Erinnerung verwurzelt bleibt?

 

Ältere Leser werden sich beim Vor- oder Selbstlesen dieser Sammlung von Peter-Geschichten zurückversetzt fühlen in ihre Kindheit mit ihren Höhen und Tiefen. Manchmal sehr sensibel und feinfühlig, manchmal mit aller Kraft und Begeisterung der Jugend, „stürmt“ Peter durch seine kleinen, alltäglichen Abenteuer.

 

Ängste und Grauen zu erfahren und zu bewältigen, gehört zu jeder kindlichen Entwicklung dazu - siehe Märchen! Auch Peter macht damit in einigen Kapiteln Bekanntschaft.

 

Bei seinen alltäglichen Abenteuern erfährt Peter jeden Tag aufs Neue, dass gemeinsame Erlebnisse die Freundschaft zu seinen Spielkameraden immer wieder vertiefen und bestärken.

 

Die Peter-Geschichten lassen in einigen Kapiteln einen stark autobiografischen Charakter erkennen. Der Protagonist ähnelt in vielen Wesenszügen meinem persönlichen, kindlichen Dasein (Autor). Die meisten Geschichten habe ich für meine eigenen Kinder geschrieben, als sie das passende Alter (vom achten bis zwölften oder vierzehnten Lebensjahr) dafür hatten.

 

Die letzten sieben Kapitel handeln von einem schon etwas älteren und gereifteren Peter, der den Leser an einigen seiner jugendlichen Erlebnisse teilhaben lässt.
Das Buch endet, bevor es dem Autor zu persönlich wird!
Vielleicht denkt er ja über eine moderate Fortsetzung seiner Erlebnis-Geschichten nach – wer weiß?!

 


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