Nathaniels Nacht

Eine leise Geschichte im Advent


Nathaniels Nacht

 

Eine leise Geschichte im Advent

 

Das Vorlesen von Geschichten gehörte in ihrer Familie schon immer zum allabendlichen Ritual. Peter und Klaus freuten sich jedes Mal aufs Neue, in den meisten Fällen gingen sie sogar ohne zu murren und freiwillig ins Bett. Auch an diesem Abend in der Adventszeit war es wieder so weit. Die beiden Brüder kuschelten sich gemütlich in ihre Kopfkissen und schauten ihren Vater, der auf der Bettkante saß, erwartungsvoll an. Vater hatte wie immer ein anderes Buch mit Geschichten dabei, doch bevor er anfangen konnte zu lesen, fragte Peter: „Du, Papa, was machen eigentlich all die Tiere in der Advents- und Weihnachtszeit, spüren die auch das Besondere, was uns Menschen in den Tagen vor Weihnachten so bewegt?“
Vater wurde nachdenklich. Er schlug das Buch, das er in seinen Händen hielt, nicht auf, sondern begann, den Kindern eine Geschichte zu erzählen, die Geschichte von
„Nathaniels Nacht“

 

„Er wühlte sich durch das lockere Erdreich, stieß hin und wieder an eine Baumwurzel oder an einen Stein und musste dann kleine Umwege in Kauf nehmen. Aber das machte ihm nichts aus, Nathaniel wühlte nicht nur, um sich seine tägliche Ration an Würmern und Engerlingen zu verschaffen, Nathaniel war ein junger Maulwurf, der aus Leidenschaft wühlte. Seine feinen Spürhaare verhalfen ihm auf diesem Teil der Wiese häufig zu leckerer Nahrung, die er dann ableckte und laut schmatzend verspeiste. Fand er nichts, wühlte er vergnügt weiter und erfreute sich daran, wie die Erde durch seine Grabschaufeln rann und er sich wie ein Schwimmer im anströmenden Wasser vorwärtsschob. Dass er dort unten in seinem dunklen Erdenreich nichts sah, machte ihm nichts aus. Seine Augen waren wie bei allen Maulwürfen winzig und verkümmert, aber seine schon erwähnten Spürhaare und seine übrigen Sinne waren hellwach. Er nahm jede Erschütterung wahr, jede noch so kleine Veränderung in seiner gewohnten Umgebung spürte er und buddelte seine Gänge dann so schnell er konnte von der vermuteten Gefahr weg. 
Spaß machte es ihm auch, sich bis an die Erdoberfläche zu wühlen, dann einen Moment noch oben zu horchen und mit einem gekonnten Wurf seiner rüsselartigen Schnauze den Weg ans Licht freizuwerfen. Hier verweilte Nathaniel dann einen kurzen Augenblick, sog begierig die fremden Düfte in sich auf und ließ die warmen Sonnenstrahlen sein samtig weiches Fell erwärmen. 

Lange durfte er diese Wonne freilich nicht auskosten. Hier oben drohte ihm Gefahr. Da gab es Greifvögel, die nur darauf warteten, dass ein unvorsichtiger Maulwurf seine Nase heraussteckte, oder flinke Wiesel, die sich von hinten anschlichen!
Eine ständige Gefahr für Nathaniel auf diesem Teil der Wiese war Alk, der Hirtenhund. Auch heute, als Nathaniel wieder einmal übermütig und voller Lebensfreude sein Näschen der Sonne entgegenstreckte, wäre ihm Alk beinahe zum Verhängnis geworden. Im letzten Augenblick spürte er die leichte Erschütterung des Bodens und fühlte schon den heißen Atem des Hirtenhundes in seinem Nackenfell, als er sich nach vorne warf, mit aller Kraft um sein Leben wühlte, geradezu in die Erde tauchte und so noch einmal den scharfen Zähnen Alks entkam. Weiter unten blieben seine Grabschaufeln einfach stecken, er konnte nicht mehr, ängstlich zitternd blieb er liegen. Aber es hatte gereicht. Alk scharrte und knurrte, aber Nathaniel war noch einmal davongekommen.

Ein paar Tage später, den Schreck noch in den Gliedern, konnte Nathaniel nicht anders, er musste sich nach oben wühlen, auch wenn es schon dunkel war, und seine Nase in die klare Nachtluft stecken. Etwas da oben zog ihn unwiderstehlich an. 
Vorsichtig schob er also sein Näschen, noch mit einem kleinen Erdklumpen darauf, aus der schützenden Deckung heraus. Und was er dort bemerkte, ließ ihn alle Gefahren der Welt vergessen. Ein hellichter Lichtschein ließ seine verkümmerten Augen flattern, und die Gerüche, die in der Luft lagen, waren fremdartig, aber süß und betäubend schön. So einen wunderbaren Augenblick hatte Nathaniel noch nie erlebt, er saß nur da und staunte. 
Doch plötzlich mischte sich ein scharfer, ihm wohlbekannter Duft zwischen all die herrlichen Gerüche - Alk! Als Nathaniel Alk bemerkte, war es schon zu spät, der Hirtenhund saß direkt neben ihm und würde bestimmt in der nächsten Sekunde zuschnappen. Nathaniel erstarrte vor Schreck, er konnte sich nicht mehr bewegen. Sein kurzes Leben raste wie ein Filmstreifen durch seine Gedanken. Nun mach schon, schnapp schon zu und lass es vorbei sein, dachte der kleine Maulwurf. 
Aber es geschah nichts. Alk regte sich nicht, er witterte nur genau wie Nathaniel zuvor in Richtung Lichtschein und nahm die herrlichen Gerüche in sich auf. Für kleine Maulwürfe schien er sich im Moment nicht zu interessieren. 
So saßen die beiden Tiere in dieser seltsamen Nacht auf einer Wiese bei Bethlehem und wurden Zeugen einer wundersamen Geburt dort hinten im Stall.

Auf einmal wurde der Lichtschein noch stärker und die Luft war erfüllt von Gesang und Glitzern. Eine laute Stimme ließ Nathaniel und Alk zusammenfahren: 
"Fürchtet euch nicht, denn euch ist heute der Heiland geboren!"
Die beiden Tiere bemerkten, wie sich die Hirten, zu denen die Stimme gesprochen hatte, aufmachten und in Richtung Stall bewegten. 
Alk setzte sich aufrecht hin, schnupperte noch einmal und trottete dann hinter den Hirten her.  Erst jetzt bemerkte Nathaniel, in welcher Gefahr er sich befunden hatte. Aber er hatte überhaupt keine Angst verspürt, im Gegenteil, ihm war so friedlich zumute, er hätte selbst Alk alles verzeihen können.

Als der Lichtschein schwächer wurde, drehte Nathaniel sich um und war nach kurzem Wühlen in seiner Nestkammer angelangt. Froh im Herzen kauerte er sich auf seinem weichen Lager aus trockenen Blättern und Moos zusammen und schlief kurz darauf tief und fest. 
Was er nicht mehr bemerkte war, dass sich der Lichtschein als feine glitzernde Sternchen in seinem Fell verfangen hatte und nun auch den kleinen Raum unter der Erde mit seinem warmen Glanz erfüllte.“

 

 

Im Zimmer der Kinder hätte man, nachdem Vater geendet hatte, eine Stecknadel fallen hören können, mucksmäuschenstill war es. Peter und Klaus schauten ihren Vater mit offenen Augen und Mündern an. Vater bemerkte, dass sich in den Augen der Kinder ebenfalls ein warmer Glanz widerspiegelte. Ohne ein Wort zu sagen, kuschelten sie sich in ihre Betten und schliefen nach einem Gute-Nacht-Kuss sofort ein. Anscheinend hatte diese Geschichte Peters Frage mehr als ausreichend beantwortet. Vater löschte das Licht und schlich sich leise und zufrieden aus dem Zimmer.