Leseprobe "Wenn es nach mir ginge, ..."

- Levis Geschichten von Anfang an


Auf der Burg (aus Levi 02) - komplett!

Es war wieder einmal einer dieser wundersamen Tage, an denen Levi sich mithilfe der Wunschkiste ausgefallene Wünsche erfüllen konnte.

 

Und so kam es, dass Levi eines Tages vor den Toren einer alten, hoch aufragenden  Burg stand. Er hatte den beschwerlichen und rutschigen Weg viele Windungen einen Berg hinauf geschafft und stand nun unter einem steinernen Torbogen mit vielen Schießscharten und weiteren, undefinierbaren Öffnungen. Levi kam sich etwas verloren vor und wollte schon umkehren, da öffnete sich ein Spalt in dem Tor und ein kleiner, in Lumpen gekleideter Junge lugte hervor.

 

„Hallo, bist du der Neue?“, wollte der Junge wissen.

 

„Ich, eh, ich weiß nicht!“, stammelte Levi.

 

“Na, komm erst einmal rein“, forderte der Junge ihn auf, „der Doktor erwartet dich schon. Er hat schon gestern mit dir gerechnet!“

 

„Aha!“, machte Levi etwas ungläubig, folgte dem Jungen jedoch in den gesicherten Aufgang zur Burg.
Rechts und links des mit Kopfsteinen gepflasterten und abschüssigen Ganges waren schmale Wasserrinnen eingelassen, die mit kleinen, fließenden Rinnsalen gefüllt waren. Das Wasser floss schnell und stank zum Himmel. Hier und da bemerkte er huschende Schatten, die in der fahlen Dunkelheit des Ganges verschwanden.
Der Junge hatte anscheinend Levis fragende Blicke bemerkt und meinte:
„Das sind nur die Ratten, die sich an den Essensresten im Abwasser gütlich tun. Keine Angst, solange sie zu fressen haben, tun sie dir nichts.“

 

„Beruhigend“, meinte Levi und folgte dem Jungen weiter, bis sie in einen kleinen Hof zwischen zwei eng beieinander liegenden, gemauerten Gebäuden gelangten.

 

Der Junge blieb unvermittelt stehen und sagte:
„So, hier trennen sich unsere Wege vorerst. Vielleicht sehen wir uns später noch einmal. Du gehst einfach geradeaus weiter durch die Tür, steigst rechts die Treppe hinauf und folgst dem langen Gang, bis du wieder an eine hölzerne Tür gelangst. Dahinter hat der Doktor seine Kammer. Mach´s gut!“
Und damit war er im Haus zur Linken verschwunden, und Levi war allein.

 

„Ein Doktor also“, dachte Levi, „dem kann man ja wohl vertrauen!“
Er wusste zwar nicht so genau, was er davon halten sollte, machte sich jedoch mit einem grummelnden Gefühl im Bauch auf den Weg. Die Tür und die Treppe waren für Levi kein Problem, aber dann lag ein langer, durch schmale Lichteinlässe in der linken Mauer spärlich beleuchteter Gang vor ihm. Das Ende war nicht einzusehen, denn der Gang beschrieb eine leichte Biegung nach rechts. Zum Glück war Levi nicht zu groß, da der Gang eng und niedrig war. Die Dachziegel über ihm lagen auf einem hölzernen Gebälk und ließen hin und wieder Blicke auf den freien
Himmel zu.

 

Levi folgte notgedrungen dem Weg und kam nach ein paar Metern zu der Erkenntnis, dass er sich hier auf einem mittelalterlichen Wehrgang befand. Er schien sich nicht in Kriegszeiten zu befinden, denn dann wäre dieser Gang überfüllt mit Bogenschützen und Schwertkämpfern, welche die Burg zu verteidigen hätten. In Kriegszeiten wäre er auch nicht so einfach durch den steinernen Torbogen in die Burg gelangt, der wäre schwer bewacht gewesen.

 

Levi tastete sich weiter durch das dämmrige Licht vorwärts, der Gang schien kein Ende zu nehmen. Endlich bemerkte er vor sich drei hölzerne Stufen und links davon eine dunkle Eichentür mit schweren Beschlägen. Levi tastete sich bis zur Tür vor und wollte gerade anklopfen, als er zurückschreckte.

 

Eine laute, dröhnende Stimme war zu vernehmen, und Levi konnte einige Wortfetzen heraushören:
„… Geschäfte mit dem Teufel?...ohne mich!...“
Und nach einer kurzen Pause:
„Verlass mich nicht… die in Rom haben mir nichts mehr zu sagen…dein Diener!“

 

Levi nahm allen Mut zusammen, der Doktor erwartete ihn schließlich. Er klopfte erneut, drückte gleichzeitig den Türdrücker und schob die Tür vorsichtig ein wenig auf. Zur gleichen Zeit zersplitterte ein Glasgefäß an der gegenüberliegenden Wand und hinterließ einen riesigen, nach allen Seiten zerfließenden blauen Fleck an der weiß getünchten Wand.

 

Levi hielt sich ängstlich am Türrahmen fest und starrte ungläubig in das zum größten Teil mit Holz getäfelte Zimmer, das an einer Wand durch ein  bunt beglastes Fenster erhellt wurde. Vor der rechten Holzwand, neben einem gemauerten Kachelofen, stand ein riesiger Schreibtisch mit einem geschwungenen, altertümlichen Holzstuhl mit zwei Armlehnen davor. Der Schreibtisch war überladen mit dicken Folianten, Pergamentrollen und allerlei Schreibutensilien, die Levi fremd waren.

 

Gerade als Levi die Tür wieder schließen wollte, hörte er die Stimme des mit einem langen Umhang und einer turbanähnlichen Kopfbedeckung bekleideten Doktors erneut dröhnen:
„Ah, da bist du ja endlich! Man hat mir eigentlich einen Gehilfen versprochen. Dass du noch so jung und klein bist, wusste ich nicht. Aber komm herein, wir wollen es miteinander versuchen.“
Und ohne Luft zu holen, ergänzte er:
„Als erstes kannst du die Glasscherben beseitigen und versuchen, den Tintenfleck von der Wand zu wischen! In der Kammer nebenan findest du alles Notwendige!“

 

Nach dieser Aufforderung schwang er sich in den Holzstuhl vor dem Schreibtisch und widmete sich wieder seiner Arbeit, ohne erneut aufzublicken.

 

Das war also ein Doktor? Ein Arzt schien er nicht zu sein, denn Levi entdeckte nirgendwo medizinische Geräte.
Nun denn, er fand schließlich einen Handfeger und ein Kehrblech und einen alten Feudel in der kleinen Kammer neben dem Fenster. Den Feudel befeuchtete er in einem Wasserbottich, der in der Ecke stand und machte sich sogleich an die Arbeit. Die Glasscherben waren im Nu zusammengekehrt, aber der Fleck an der Wand ließ und ließ sich nicht so leicht entfernen. Besser gesagt, ein blauer Schimmer war auch nach langer Plackerei immer noch zu erkennen.

 

Levi wusste sich nicht mehr zu helfen. Er näherte sich zaghaft dem Schreibtisch und machte sich leise bemerkbar:
„Herr Doktor“, flüsterte er fast unhörbar, „ich habe alles versucht, aber der Fleck geht einfach nicht ganz weg!“
Der Doktor nuschelte etwas Unverständliches vor sich hin, tauchte einen Gänsefederkiel in ein zweites Tintenfass und kritzelte ein paar Wörter auf ein Stück Pergament. Levi schien er überhaupt nicht bemerkt zu haben.
„Herr Doktor,…“, setzte Levi erneut an, kam aber nicht weiter, denn der Doktor fixierte ihn plötzlich mit einem Blick, der durch ihn hindurch zu gehen schien.
„Was heißt ´testamentum novum´?“, fragte er unvermittelt, legte den Kopf schief und kniff dabei das linke Auge zu.

 

Levi war ganz verdattert. Zum Glück hatte er sich oft mit seinem Opa West unterhalten, dabei auch ein paar lateinische Begriffe aufgeschnappt und im Gedächtnis behalten.
„Neues Testament!“, schossen die Worte aus seinem Mund hervor, und Levi wartete auf die Reaktion des Doktors.
„Donnerwetter!“, polterte der los.
„Du bist mir aber ein Früchtchen. So jung und schon ein Gelehrter? Das hätte ich nicht erwartet! Kannst du noch mehr?“
Levi ließ sich nicht noch einmal bitten und legte los. Er dachte an seinen Opa und begann:
„Levi strenuus discipulus est. Non scolae sed vitae discimus. Mens sana in corpore sano….“
„Stopp, stopp!“, unterbrach ihn der Doktor. „Verschieß nicht gleich dein ganzes Pulver! Wenn du so weiter machst, verpassen wir doch glatt das Abendbrot.“
Er legte die Feder beiseite, verschloss das Tintenfass und erhob sich.
„Meine Arbeit muss bis morgen warten“, sagte er, „ein so schlaues Bürschchen wie dich darf ich doch nicht verhungern lassen. In deinem Alter konnte ich ganze Brote vertilgen. Komm, wir gehen in die Burgküche, dann kannst du deinen Spruch „mens sana in corpore sano“ gleich in die Tat umsetzen!“
Mit diesen Worten ergriff er Levis Schulter und schob ihn sachte vor die Kammertür. Dort zog er einen großen, eisernen Schlüssel unter seinem Gewand hervor und verriegelte die Tür. Levi folgte dem Doktor den langen Wehrgang zurück, die steinerne Treppe hinunter, zur Tür hinaus und auf der anderen Seite des Platzes wieder in eine Tür hinein.

 

Sie standen in einem großen Raum, der voll und ganz von einer riesigen, offenen Feuerstelle beherrscht wurde. Überall lagen, standen und hingen Schalen, Schüsseln und Kellen herum und über dem offenen Holzfeuer hing ein gewaltiger Kessel, in dem es brodelte und gluckste. Ein Schwaden hing unter der niedrigen Decke, der einen süßlichen Duft zu ihnen herübertrug. In dem Raum befand sich nur noch eine weitere Person, eine kleine, rundliche Frau mit einer Schürze vor dem dicken Bauch und einer weißen Haube auf dem Kopf, anscheinend die Köchin. Eine rote Nase beherrschte ihr Gesicht, die Haut war nass von Schwaden und Schweiß. Ihre flinken, kleinen Schweinsäuglein schienen alles zugleich im Blick zu haben, die Feuerstelle, den schon gedeckten Tisch und die Ankunft der beiden ungleichen Gesellen.
„Na, ihr seid mir ja zwei unterschiedliche Gestalten“, bemerkte sie lächelnd.
„Da weiß ich gar nicht, ob ihr großen oder kleinen Hunger habt.“
„Mach dich nicht lustig über meinen neuen Gehilfen, Walburga, und trag einfach auf, was du für richtig hälst!“
Und Walburga hielt so einiges für richtig!
Levi sah, wie sich die Speisen nur so vor ihm auftürmten. Noch dampfendes Brot, gebratene Hühnchen, leckere Quarkspeisen und allerlei Obstsorten ließen ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Zu guter Letzt stellte die Köchin drei große Tonkrüge und zwei Becher dazu.
„Greif zu, mein Junge und lass es dir schmecken! Walburga versteht ihr Handwerk vortrefflich“, dröhnte der Doktor mit einem strahlenden Gesicht. „Bei den Getränken hältst du dich aber besser an den Wasserkrug, der Wein und das Leichtbier sind für mich!“
Das ließ Levi sich nicht zwei Mal sagen. Er goss sich den Becher bis zum Rand mit Wasser voll, so dass sogar etwas auf den Tisch schwappte. Dann nahm er einen großen Schluck von dem köstlichen Nass. Er wusste gar nicht, dass er so durstig war.
„Na, schmeckt dir unser Wasser? Es stammt aus unserem eigenen Ziehbrunnen hier in der Burg, den musst du dir später einmal ansehen!“
Der Doktor nahm einen kräftigen Schluck vom Leichtbier und putzte sich den Mund mit seinem Ärmel ab.
Während des Mahls beobachtete er Levi immer wieder aus den Augenwinkeln.
„Kennst du eigentlich noch weitere lateinische Begriffe?“, fragte er mit vollem Munde.
„Na klar!“, gab Levi zurück und begann wieder, sein ganzes lateinisches Repertoire herunter zu rasseln.
„Hic Rhodos, hic salta! Pax intrantibus, salus exeuntibus! Und viele weitere Wörter, wie camera, porta, fluvius, manus, caput, domus, pater, mater, …“
„Du bist wirklich ein erstaunliches Kerlchen. Ich fange an, dich zu mögen“, unterbrach ihn der Doktor.
„Morgen beginnen wir mit unserer gemeinsamen Arbeit. Du kannst mir bei der Übersetzung eines Teiles der Bibel, dem Neuen Testament, helfen. Ich möchte, dass alle Menschen der deutschsprachigen Völker die Bibel verstehen können? Sie ist bisher nur in griechischer und hebräischer Sprache aufgeschrieben worden, und das verstehen nur die Popen. Wenn du verstehst, was ich meine!“
„Hm, ja, nein, …“
Weiter kam Levi nicht, denn die Tür wurde aufgerissen und unter dem Türstock stand der Junge, der Levi am Haupttor abgeholt hatte.
„He, da bist du ja!“, rief er in den Raum. „Komm, lass uns die Burg erkunden!“
„Hallo!“, polterte der Doktor dazwischen und ermahnte den Jungen:
„Nun mal langsam mit den jungen Pferden. Kannst du nicht anklopfen? Hier herrschen anständige Sitten!“
„Entschuldigung“, stotterte der Junge ängstlich, „aber ich dachte nur, …“
„Seit wann denkst du?“, fuhr der Doktor dazwischen. „Aber ich sehe schon, auch Levi kann ein wenig andere Gesellschaft als die meinige nicht schaden. Geht nur! Levi, wir sehen uns morgen in aller Frühe nach dem Frühstück, aber pünktlich!“
Levi sprang auf, rief noch in den Raum: „Danke Doktor, danke Walburga!“, und war schon aus der Tür.

 

Der Junge war ein kleiner Blondschopf mit einigen Narben am Kopf und an Armen und Beinen. Er trug einen Umhang aus grobem Sackleinen, der mit einem Strick gehalten wurde. Aus dem Strick, der auch als Gürtel diente, lugte ein langes Holzmesser hervor. Seine Füße waren barfuß und steckten in Ledersandalen, die ebenfalls mit Strick zusammengehaltenen wurden.
Er kannte sich in den Gemäuern der Burg gut aus. Wie Levi schnell erfuhr, war er der Sohn der Köchin und auf der Burg geboren. Sein Name war Siegfried.
Er raste los, so dass Levi ihm kaum folgen konnte. Im Nu waren sie beim Brunnen angekommen.

 

Außer Atem fragte Levi:
„Das ist also der berühmte Brunnen, von dessen Wasser der Doktor so geschwärmt hatte? Es schmeckt aber auch wirklich gut, ich habe es vorhin probiert.“
Ohne zu antworten drehte sein neuer Freund an der Kurbel und beförderte unter einiger Anstrengung einen an einer Eisenkette hängenden Holzzuber bis auf Höhe des Brunnenrandes. Dann zog er ihn auf den Rand, dass das Wasser nur so schwappte, nahm eine hölzerne Schöpfkelle vom Haken und reichte sie Levi.
„Da, nimm, jetzt kannst du dich selbst noch einmal von der hervorragenden Qualität überzeugen!“
Levi tauchte die Kelle in den Zuber und füllte sie bis zum Rand mit dem frischen Nass. Nach einem tiefen Schluck konnte er nicht anders als anerkennend nicken.
„Köstlich, vorzüglich!“, lobte er. „Das ist die Garantie für das Überleben einer Burg, wenn sie mal belagert werden sollte. Aber, der Brunnen muss doch sehr tief sein. Die Burg ist auf einem hohen Berg gebaut worden.“
„Mit deiner Vermutung liegst du vollkommen richtig, Levi“, erklärte Siegfried.
„Wie hoch der Burgberg und wie tief der Brunnen demnach ist, kannst du gleich vom Bergfried aus gut sehen. Das gute Wasser benutzt unser Braumeister übrigens auch für die Herstellung des Leichtbieres, das der Doktor so gerne trinkt.“
Bei dem Wort „Doktor“ meinte Levi, eine leichte Traurigkeit in Siegfrieds Augen zu erkennen und er fragte:
„Stimmt etwas nicht, ist etwas mit dem Doktor nicht in Ordnung?“
„Nun ja, wie man´s nimmt“, begann Siegfried zu erzählen, nachdem sie sich in den Schatten des Brunnendaches gesetzt hatten.
„Der Doktor ist nur als Gast auf dieser Burg versteckt, die einem Freund von ihm gehört. Er wird von einflussreichen Feinden gesucht, mit denen er es sich gründlich verscherzt hat. Hier nennen ihn viele nur Junker Jörg, aber er ist in Wirklichkeit ein Professor der Theologie. Ein Mensch der Religion, der will, dass viele Menschen hierzulande seine neuen Lehren verstehen können. Bisher wurden in den Kirchen die Gottesdienste ja nur in lateinischer Sprache abgehalten, und nur die wenigsten Menschen konnten etwas von der Predigt verstehen. Auch die Bibel konnte kaum jemand lesen. So hat es sich unser Doktor zur Aufgabe gemacht, die Bibel aus der ursprünglichen hebräischen und griechischen Sprache in ein verständliches Deutsch zu übersetzen! Es gibt ja so viele verschiedene Dialekte in deutschen Landen, hat mir der Doktor erzählt, dass seine Arbeit gar nicht so leicht ist. Er muss zuerst einen gemeinsamen Dialekt für alle entwickeln! Aber das schafft der schon, zumal er ja jetzt einen fleißigen Gehilfen hat.“
Er zwinkerte Levi wissend zu.
„Das ist ja eine lobenswerte Arbeit, einen gemeinsamen Dialekt für viele Menschen zu erfinden, damit auch alle die Bibel lesen und den Gottesdienst verstehen können. Das hat mir der Doktor schon etwas erklärt“, meinte Levi. „Warum hat er denn dann Feinde und muss sich verstecken?“
„So wie mir der Doktor gesagt hat“, fuhr Siegfried fort, „möchte er auch noch einiges mehr verändern, seiner Meinung nach verbessern. Aber da kannst du ihn besser selbst fragen. Ich habe das auch nicht so genau verstanden.“
Mit diesen Worten sprang er vom Brunnenrand, und sie machten sich auf zum Bergfried.

 

Der rechteckige, massige Bergfried lag am anderen Ende der langgestreckten Burg und ragte hoch in den Himmel hinein, höher als alle anderen Gebäude. Um sein äußeres Gemäuer wand sich eine schmale, hölzerne Treppe empor, die von einem Dach vor Witterungseinflüssen geschützt war. Die Treppe reichte fast bis unter das aus starken Holzschindeln gebildete Hauptdach. Von dort oben musste der Ausblick herrlich sein!

 

Und so war es auch! Levi staunte nicht schlecht, als er mit Siegfried auf der obersten kleinen Plattform stand und seine Blicke schweifen ließ. Die Burg lag auf einem hohen Bergrücken, dessen Flanken nach allen Seiten steil abfielen. Sie war umgeben von unzähligen bewaldeten Hügeln, die sich im Dunst des weiten Horizontes verloren. Durch die hohen Bäume am nordwestlichen Rand der Burg waren einige Häuser der kleinen Stadt zu erkennen, die im Schutz der Burg lag. In der Ferne, auf zwei sich gegenüberliegenden Hügeln erhoben sich zwei weitere Burgen, die von hier aus nahezu identisch aussahen, die „zwei Schwestern“ wurden sie genannt.
Levi war begeistert und wollte gerade etwas zu Siegfried sagen, als unter ihnen, im Burghof, Unruhe entstand. Einige Bedienstete liefen unruhig hin und her, schlugen die Hände über dem Kopf zusammen und verschwanden in den umliegenden Gebäuden.
Levi und Siegfried hörten ein Getrappel hinter sich auf den hölzernen Treppenstufen, drehten sich um und sahen sich einem aufgeregten Jungen gegenüber.
„Die Schergen des Papstes sind gesehen worden. Wir müssen den Doktor warnen!“, rief er aufgeregt, drehte sich um und verschwand wieder nach unten.
„Die Schergen des Papstes!“, entfuhr es Siegfried, und sie machten sich eiligst auf den Weg nach unten. Vor der Küche erspähten sie Walburga, sie rief ihnen zu:
„Gefahr erkannt, Gefahr gebannt! Alles in Ordnung! Sie sind vorbeigeritten, aber wir werden sie im Auge behalten.“
Levi und Siegfried waren beruhigt, trennten sich und bereiteten sich auf den Abend vor.

 

Der nächste Morgen sollte Levi auf seine Routine vorbereiten. Dazu gehörten Pergament besorgen und Tinte und Gänsekiele zum Schreiben bereitzulegen. Der Boden musste gesäubert, die Fenster geputzt und der Doktor mit Getränken versorgt werden. Weiter musste Levi ihn an Termine erinnern. Es standen von Zeit zu Zeit Gespräche mit dem Burgherrn an. Während der Arbeit des Doktors schnappte Levi viele fremdländische Wörter auf und speicherte sie in seinem Gedächtnis.
Levi fegte gerade den Boden in der Kammer des Doktors, als dieser unvermittelt fragte:
„Du bist doch kein Jud, oder wo bist du geboren?“
„Ich, nein“, erwiderte Levi verwirrt, „ich bin in Castrop bei Dortmund geboren.“
„Ach so“, meinte der Doktor interessiert, „wo liegt denn das?“
„In Nordrhein-Westfalen“, antwortete Levi diensteifrig.
„Aha, bei den Westfalen“, sagte der Doktor. „Die sind ja auch nicht so ohne! Ziemlich kriegerisch drauf, oder? Na, jedenfalls kein Jud.“
Levi stotterte noch etwas Unverständliches vor sich hin, aber der Doktor hatte sich schon wieder seiner Übersetzungsarbeit zugewandt.
Nach weiterer Aufräum- und Säuberungsarbeit traute sich Levi zaghaft zu fragen:
„Lieber Herr Doktor, ich bin sehr von ihrer Arbeit beeindruckt und ich freue mich, daran teilhaben zu dürfen. Aber eines verstehe ich nicht: Wie lassen sie die einfachen Bauern und Bürger wissen, dass sie die Bibel für sie in eine einheitliche deutsche Sprache übersetzen. Es kommt doch aus Sicherheitsgründen kaum jemand zu ihnen auf die Burg.“
„Siehst du, mein junger Freund“, erklärte der Doktor, „dazu bedarf es unterschiedlicher Beziehungen. Ich habe einen Freund, den Phillip Melanchthon, der meine Schriften auf geheimen Wegen aus der Burg schmuggelt und zu einem anderen Freund bringt. Der Johannes Gensfleisch, genannt Gutenberg, hat ein Verfahren entwickelt, mit beweglichen Metalllettern und einer Druckerpresse meine schriftlichen Arbeiten zu vervielfältigen. Früher musste jedes Werk von mir handschriftlich kopiert werden. Die Lettern für die Druckerpresse bestehen aus einer Legierung aus Zinn, Blei und Antimon, dazu wird eine ölhaltige, schwarze Druckfarbe verwendet.“
„Interessant!“, meinte Levi. „Das geschieht heute aber schon digital und fototechnisch.“
Der Doktor schaute seinen jungen Eleven etwas skeptisch von der Seite an und grummelte:
„Was du nur wieder für Ausdrücke benutzt! Aber lass uns weiter arbeiten, die Menschheit wartet schließlich.“

 

Gesagt, getan! Die Tage vergingen wie im Flug. Die Pergamentseiten und auch die Druckseiten füllten sich, und das neue Neue Testament nahm Form an.

 

Eines Tages lernte Levi den Freund des Doktors, Philipp Melanchthon, kennen, einen jüngeren Mann in moderner Gewandung und forschem Auftritt. Der Doktor stellte ihn als eine treibende Kraft der deutschen und europäischen, kirchenpolitischen Reformation vor, was auch immer das bedeuten sollte. Doch heute hatte der Freund eine andere als politische Botschaft für den Doktor dabei.
„Deine Frau, die Käthe, möchte sich morgen mit dir im Gasthof zum Ochsen in der Stadt treffen. Das Treffen muss jedoch geheim stattfinden! Die Schergen des Papstes sind in der Nähe gesehen worden. Lass uns die Mittagsstunde für eine Begegnung ansetzen!“

 

Der nächste Tag startete mit einiger Aufregung für den Doktor. Er wies Levi an, seine Kammer aufzuräumen und ihn danach zu dem Treffen zu begleiten. Levis Gefühle überschlugen sich. Er durfte die Burg das erste Mal verlassen und würde die Frau des Doktors treffen. Dazu würde er sich in eine wage Gefahr begeben. Die Schergen des Papstes waren für ihn nicht einschätzbar!

 

Der Gasthof zum Ochsen lag an dem Flüsschen Hörsel am Nordrand des Thüringer Waldes und stand für Gediegenheit. Das weißschwarze Gewerk, auch Fachwerk genannt, bildete einen gewaltigen Kontrast zu den hellgrünen Buchen im Hintergrund. Einige kleine Gebäude umringten das Haupthaus und beherbergten mehrere Ställe und Vorratsräume. Eine gemütliche, mit viel dunklem Gebälk ausgestattete Stube war für das geheime Treffen vorbereitet worden. Frau Käthe war schon vor der Delegation aus der Burg vor Ort und erwartete ihren Gatten. Sie trafen sich nicht allzu oft. Die Gefahr, erkannt und erwischt zu werden, war viel zu groß. Zur Mittagszeit stürmte der Doktor, gefolgt von seinem Gesinde und von Levi, in die Stube und umarmte seine Frau.
Viele, für Levi nicht verständliche Worte und auch Liebkosungen, wurden gewechselt. Der Doktor sprudelte nur so vor Glück. Seine Frau Käthe machte auf Levi einen sehr sympathischen Eindruck. Unter anderen Umständen hätte er sie bestimmt liebgewinnen können!

 

In Minuten des höchsten Glücks stürmte plötzlich Philipp Melanchthon herein und rief:
„Mein Freund, Frau Käthe, ihr müsst hier  verschwinden! Begebt euch in Sicherheit! Die Schergen des Papstes haben von diesem Treffen Wind bekommen und sind auf dem Weg hierher.“
Sofort wurde sein Gesinde aktiv, nahm den Doktor und Frau Käthe in seine Mitte und verließ das Gasthaus durch eine geheime Tür.
Levi saß etwas verwirrt am Tisch und sah gerade noch, wie ein Reiter auf seinem Pferd durch die Gasthaustür sprengte, gefolgt von etlichen Schergen und vor ihm zum Stehen kam.
„Wo ist der Luther!“, blaffte er Levi an. Doch als dieser nur verwirrt den Kopf schüttelte, schrie der Reiter in die Runde:
„Er scheint uns wieder entwischt zu sein, verdammt. Doch nehmt den da zur Befragung mit, vielleicht weiß er etwas!“
Er deutete mit einem Schwert auf Levi, wendete sein Pferd und sprengte wieder zur Tür hinaus. Einer der Schergen sprang vom Pferd und hastete auf Levi zu:
„Du da!“, schrie er mit markerschütternder Stimme, „du bist verhaftet! Versuche gar nicht erst zu fliehen!“
Levi konnte sich nicht bewegen, auch, wenn er das gewollt hätte. Er saß wie versteinert auf der Bank und ergab sich seinem Schicksal. Was hätte er auch machen können! Der Scherge zeigte mit der Schwertspitze auf Levis Brust und …

 

…Levi schüttelte sich. War das sein Ende? Er würde den Doktor niemals verraten.
Aber das brauchte er auch nicht. Er war in seiner Wirklichkeit zurück und befand sich auf dem Spielteppich im Wohnzimmer seiner Großeltern.
Puh, das war ja noch einmal gutgegangen!