Das alte Haus am Steintor (Leseprobe)

Gegenwart

Das alte Haus am Steintor lebt.
Jetzt könnt ihr sagen: Ein Haus lebt nicht! Es besteht aus Steinen, Holz und anderen Materialien, die aber allesamt leblos sind!
Da muss ich euch vehement widersprechen. Das alte Haus am Steintor lebt wirklich. Ich habe es selbst mehrmals erlebt. Es steht zwar schon sehr lange leer, und es interessiert sich anscheinend niemand mehr dafür. Auch sind die Fensterscheiben so blind wie ein alter Maulwurf, und die Fensterläden hängen schief. Einige Hausecken und die Wände fangen ebenfalls schon an zu bröckeln.
Es ist eben ein sehr altes Haus.
Das Dach ist etwas windschief, und es mag hier und da reinregnen, aber trotzdem lebt das Haus.

Ich möchte noch weitergehen und sagen: Das Haus hat sogar eine Seele.
Ja, ihr habt richtig gehört – eine Seele! Jeder ehemalige Bewohner dieses Hauses hat anscheinend etwas von sich zurückgelassen, als er das Haus verließ, auf welche Art und Weise auch immer.

Aber ich sehe schon, ich muss euch einmal mit hineinnehmen. Ihr müsst es am eigenen Leib erleben, das Haus, dann werdet ihr mir vielleicht glauben.
Aber ihr sollt gewarnt sein, was dort geschieht, ist manchmal nicht so einfach zu verstehen. Und mancher von euch wird das alte Haus am Steintor nach seinem ersten Besuch nie wieder betreten und sogar einen großen Bogen darum machen. Vielleicht wird euch das Haus aber auch dermaßen in seinen Bann ziehen, dass ihr nie wieder davon lassen könnt.
Kommt also einmal mit - wenn ihr euch traut!

...............................

Der Falkner (Auszug)

Vergangenheit

Ein paar Tage später, Josef saß gerade auf der Bank vor seinem Haus und rauchte seine Pfeife, da war aus der Ferne ein lautes "Hallo" und "Hurra" zu hören.

 

"Hedwig, Hedwig!", rief Josef aufgeregt. "Die Fahrenden kommen!"

 

Und richtig, Auch Hedwig war aus dem Haus gekommen und hörte den Lärm. Beide gingen zum Zaun und schauten die Straße hoch. Schon waren die ersten Fuhrwerke zu sehen. Vorneweg zogen zwei schwere Ochsen einen Karren über das holprige Kopfsteinpflaster der Straße. Dahinter trippelte unruhig zwei Pferde vor einem geschlossenen Wagen. Sie mussten immer wieder im Zaum gehalten werden. Viele Leute gingen auch zu Fuß und hatten Tragegestelle auf dem Rücken, an denen Töpfe und Pfannen hingen. Einige waren bunt verkleidet und machten Späße mit den immer mehr werdenden Zuschauern. Ein kleines Mädchen schlug die ganze Zeit Räder. Dahinter kam ein Leiterwagen, von zwei starken Ochsen gezogen, auf dem ein Gitterkäfig gespannt war, in dem ein großer, schwarzer Bär saß. Unruhig beäugte er die Menge. In dem Moment, als der Wagen vor dem Haus des Schuhmachers ankam, richtete sich der Bär zu seiner vollen Größe auf und ließ ein tiefes, grollend Knurren hören.

 

Hedwig wich ein Stück zurück und rief erschrocken: "Ach du meine Güte! Was ist das für eine Bestie!"

 

Josef stand noch vorne am Törchen und zeigte auf den nächsten Wagen: "Schau, da vorne kommt der Falkner!"

 

Der Falkner ging neben seinem Wagen her, der von einem Pferd gezogen wurde und mit mehreren Vogelkäfigen beladen war, und hielt auf seinem ausgestreckten Arm einen stolzen Falken an einer Lederschnur fest. Als er bei Josef vorbeikam, hätte dieser das Tier fast streicheln können. So nah war er noch keinem Vogel dieser Art gekommen. Das war ein herrliches Gefühl!

 

"Du musst der Schuhmacher sein, von dem man mir im letzten Ort schon erzählt hat", sprach der Falkner Josef plötzlich an. "Zu dir komme ich später noch einmal vorbei, du könntest mir einige Ledersachen reparieren."

 

Josef konnte gerade noch mit dem Kopf nicken, da war der Falkner schon weiter.

 

Die fahrenden Leute quälten sich mit ihren Fuhrwerken durch das enge Stadttor, stießen hin und wieder an den Seiten an, überquerten dann ohne anzuhalten den Marktplatz und fuhren auf der anderen Seite wieder hinaus. Auf dem großen Anger vor dem Ort schlugen sie ihr Lager auf.

 

Am nächsten Morgen saßen Josef und Hedwig beim Frühstück und besprachen, was alles zu tun war.

Josef war unruhig und fragte:

„Meinst du, dass der Falkner heute schon vorbeikommt und seine Sachen zur Reparatur bringt? Ich bin schon ganz gespannt. So etwas habe ich noch nie gemacht.“

 

„Das kann ich dir leider auch nicht sagen“, gab Hedwig zur Antwort. „Du wirst das schon schaffen, so wie ich dich kenne. Du freust dich doch immer, wenn knifflige Sachen auf den Tisch kommen.“

 

Das stimmte tatsächlich. Wenn es etwas zu fummeln gab, dann war Josef erst richtig zufrieden. Alltägliches machte er schon im Schlaf. Für Besonderheiten hatte er viele Spezialwerkzeuge und spezielle Materialien von seinem Vater und von seinem Großvater geerbt. Er dachte gerade an die besonders feinen Nadeln, die er extra in einem Lederetui aufbewahrte. Dazu hatte er noch eine ganze Rolle von dem gedrillten Faden, in dessen Mitte eine Schweineborste eingearbeitet war. Dieser Faden war besonders haltbar und bestimmt das Richtige für die Sachen des Falkners.