Der 24. Dezember
Der Gottesdienst war wie jedes Jahr am Heiligen Abend gegen achtzehn Uhr zu Ende. Peter und Klaus waren in der Kirche wie immer
sehr aufgeregt und zappelig; still sitzen war noch nie ihre Stärke gewesen. Jetzt drängelten und schoben sie sich an dicken Mänteln und langen Stiefeln vorbei ins Freie.
Endlich - hier draußen schnitt einem zwar der frostige Wind ins Gesicht, man konnte sich aber frei bewegen. Und das taten Peter und
Klaus dann auch, sie rannten immer wieder voraus, so dass ihr Vater sie mehrmals ermahnen musste. Aber die Vorfreude auf die Bescherung war so groß, dass sie zu Beginn der Weidestraße einfach
losrennen mussten.
Ihre Beine wirbelten durch die Luft. Peter kam nur ganz kurze Zeit nach seinem großen Bruder an der Haustür an. Sie hatten rotgefrorene Nasenspitzen und ihre Wangen glühten wie Feuer.
„Wetten, dass ich das Feuerwehrauto kriege, das ich mir gewünscht habe?", fragte Klaus seinen Bruder.
„Ha, denk dran, was Mama gesagt hat, als wir nach der Sache am Kleinbahnschuppen nach Hause kamen", antwortete Peter.
„Dieses Jahr werden die Weihnachtsgeschenke bestimmt mager ausfallen. Auch wenn das schon ein paar Monate her ist, das Christkind vergisst nichts, es schreibt alles in ein großes, goldenes
Buch."
„Hör dir den an", Klaus äffte seinen kleineren Bruder nach, „das Christkind schreibt alles in ein großes, goldenes Buch. Sag mal, spinnst du?, Christkind, Weihnachtsmann, das sind alles nur
Märchen für kleine Babys, wie du eins bist."
„Gar nicht", heulte Peter los, „Mama hat gesagt..." Weiter kam Peter nicht.
„Sagt mal, müsst ihr euch denn immer streiten? Heute ist Heiligabend, vertragt euch gefälligst!"
Vater nahm die beiden Jungen beim Arm und hielt sie auseinander. In dieser Stimmung war es besser, sie mindestens drei Meter voneinander entfernt zu halten.
Im Haus hatten sich die beiden Streithähne wieder einigermaßen beruhigt.
Jetzt nahm auch die Erwartung auf die Geschenke erneut die Oberhand bei ihren Gefühlen.
Doch so sehr die beiden auch bettelten und nörgelten, wie jedes Jahr versammelte sich die Familie auch an diesem Abend in der Küche, um eine Kleinigkeit zu essen.
Viel bekamen die Jungen nie runter, dazu waren sie zu aufgeregt. Und das war auch besser so, wo hätten sonst die vielen Süßigkeiten nachher noch Platz finden sollen?
Das Abendessen sollte also nicht lange dauern, und die guten Sachen auf dem Tisch wurden schon bald nicht mehr angerührt.
„Ich will einmal nachsehen, ob das Christkind schon da war", unterbrach Vater das erwartungsvolle Schweigen und gab damit das Stichwort, auf das es jetzt richtig losgehen sollte.
Vater stand auf und ging über den kleinen Flur zur Wohnzimmertür. Dort blieb er einen Moment stehen und lauschte gespannt. Er drehte sich zu den Kindern um und gab mit der Hand ein Zeichen, was
so viel bedeuten sollte wie:
Abwarten, ich schaue einmal nach.
Peter sah seinen Bruder von der Seite her an.
„Komisch", flüsterte er, „wenn es das Christkind deiner Meinung nach nicht gibt, dann brauchst du doch nicht so aufgeregt zu sein."
Anstatt einer Antwort bekam Peter einen Rippenstoß, dass er sich das Fluchen unterdrücken musste. Ihre Mutter sah die beiden Streithähne strafend an. In der Zwischenzeit war Vater im
Wohnzimmer verschwunden. Die Spannung stieg, nichts regte sich mehr. Alle Augen starrten gebannt in Richtung Wohnzimmertür.
Und dann geschah es. Es kam wie es kommen musste! Vater hatte anscheinend das Christkind bei seinen letzten Vorbereitungen gestört, denn die Wohnzimmertür wurde aufgerissen, Vater stürmte
heraus und zog
die Tür hinter sich zu.
Doch noch bevor die Tür zuschlug, flogen zwei oder drei Walnüsse dicht an Vaters Kopf vorbei auf den kleinen Flur. Sie knallten an
die gegenüberliegende Wand und streuten ihre zerbrochenen Schalen über den ganzen Fußboden.
Vater hielt beide Hände schützend an den Kopf, rannte in die Küche und keuchte:
„Ach du meine Güte, das ist ja noch mal gut gegangen. Ich glaube, wir müssen noch einen Moment warten!"
Die Jungen schauten ihren Vater ängstlich an.
„Nein, nein", beruhigte Vater sie, „das Christkind meint es schon gut, es hat auch etwas gebracht. Wir sollen nur warten, bis es die Weihnachtsmusik angeschaltet hat, dann können wir
hereinkommen."
Und noch ehe Peter und Klaus aufatmen konnten ertönte aus dem Wohnzimmer ´Stille Nacht, heilige Nacht'.
„Jetzt", forderte Vater die Kinder ermunternd auf, „jetzt ist es Zeit."
Wie auf Kommando sprangen die beiden Jungen auf und rannten zum Wohnzimmer.
Doch an der Tür blieben sie stehen und drehten sich zu ihren Eltern um. Keiner traute sich, den Türgriff runter zu drücken. Selbst Klaus, der immer so vorlaut war und alles konnte, hatte keinen
Mut. Vater griff über ihre Köpfe hinweg, drückte den Türgriff hinunter und stieß die Tür weit auf.
Ein hell erleuchteter Weihnachtsbaum strahlte ihnen entgegen. Der ganze Raum war erfüllt von silbrigem Glänzen, das sich in den
Augen der Kinder widerspiegelte.
Und das Wichtigste - unter dem Baum waren Berge von Geschenken aufgestapelt, die in buntes Weihnachtspapier, mit wundervollen Schleifen verziert, eingepackt waren.
„Ah", staunten die Jungen wie aus einem Mund. Und als ob es das Signal gewesen wäre, stürmten sie los und machten sich über die Geschenke her.
Buntes Papier flog in Fetzen durch die Luft und lautes Rufen und Lachen übertönte die doch so besinnliche Weihnachtsmusik.
Auch dieses Weihnachtsfest verlief also ganz normal: Pakete wurden ausgepackt, die geschenkten Kleidungsstücke beiseitegelegt und
mit den Spielsachen gespielt, dazu Süßigkeiten in Mengen genascht, bis die Müdigkeit Peter und Klaus übermannte.
Die beiden wurden zu Bett gebracht und schliefen in der Gewissheit ein, morgen einen herrlichen ersten Weihnachtsfeiertag zu verbringen.
„Der ist es!“, rief Mutter aus. „Der hat die richtige Größe!“
„Quatsch“, entgegnete Peter, „guck dir den Krüppel doch mal genauer an! Der ist gewachsen wie Quasimodo in seinen schlechtesten Tagen.“ Dabei wuchtete er den mitgebrachten Picknickkorb auf einen
Baumstumpf und öffnete ihn.
„Du kannst den Korb ruhig noch zulassen und deine dummen Sprüche unterlassen!“, sagte Mutter beleidigt. „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen!“
Sie hielt ihm die Handsäge hin und zeigte auf die verwachsene Tanne in der Nähe.
Auch der Rest der Familie hatte mittlerweile den Platz um den Picknickkorb erreicht und schaute Mutter fragend an.
„Mutter, das ist doch wohl nicht dein Ernst. Nur weil der Baum in etwa deine Größe hat, darf er sich noch längst nicht Tannenbaum nennen!“, rief Vater empört aus. „Hast du etwa schon am Glühwein
genippt?“
Peter grinste triumphierend über das ganze Gesicht.
„Sucht doch euren Baum alleine aus und lasst mich in Ruhe!“, maulte Mutter. „Ich bewache in der Zwischenzeit den Picknickkorb. Jedes Jahr das Gleiche!“
Den letzten Satz hatten die übrigen Familienmitglieder nicht mehr mitbekommen. Sie waren schon in alle Himmelsrichtungen ausgeschwärmt und im Nu zwischen den anderen Bäumen in der kleinen
Schonung verschwunden.
Mutter blieb allein zurück mit dem Picknickkorb, der verkrüppelten Tanne und ihrer Wut im Bauch. Sie setzte sich auf den Baumstumpf
neben den Korb, öffnete diesen und schaute hinein. Die große Kanne mit heißem Glühwein und leckere, von ihr selbst gebackene Blätterteigschnecken boten sich ihr geradezu an. Mutters Hand griff
wie von selbst hinein, nahm eine Schnecke und führte sie zum Mund.
„Hm“, seufzte sie genüsslich, „die sind mir wieder vorzüglich gelungen! Das habt ihr nun davon. Ich werde sie alle aufessen und zur Strafe nicht eine übriglassen. Meine Meinung zählt wohl nie,
was?“
Mutter zog ihre dicke Daunenjacke enger um sich, lehnte sich gemütlich an den Korb und aß eine Blätterteigschnecke nach der anderen.
Aus der Tannenschonung war nur ab und zu und in weiter Ferne ein Ausruf zu hören. Verstehen konnte man nichts.
„Die sind einige Zeit beschäftigt!“
Nach vier Schnecken konnte Mutter nicht mehr, sie war pappenvoll.
Plötzlich gesellte sich ein kleiner Vogel zu ihr. Er setzte sich auf die Spitze der kleinen Tanne und schaute sie mit schräggelegtem Kopf an.
„Na, mein Kleiner! Wenigstens du leistest mir Gesellschaft“, lockte Mutter ihn und hielt ihm einen kleinen Brocken der Schnecke hin. Der Vogel, eine Kohlmeise übrigens, piepte leise und drehte
den Kopf zur anderen Seite, kam aber nicht näher. Mutter warf den Brocken unter die verkrüppelte Tanne, und - schwupps - war
die Meise bei ihm, flog mit ihm auf den nächsten Zweig und knabberte daran herum. Mutter hatte Spaß an dieser Dressurnummer und ihr wurde ganz warm ums Herz. Der Streit mit der Familie war auf
einmal wie weggeblasen.
„Jetzt habe ich Durst“, kam es ihr plötzlich in den Sinn. In Ermangelung eines anderen Getränkes nahm sie einen Becher aus dem Korb und die große Thermoskanne, öffnete diese und goss den Becher
bis zum Rand voll.
„Piep, piep!“, rief die Meise von der Tanne her.
Ertappt drehte Mutter die Kanne wieder fest zu und sagte zu dem Vogel:
„Nein, nein, das ist nichts für dich. Ich nehme auch nur ein kleines Schlückchen. Ich habe Durst und mir ist kalt.“
Sie führte den dampfenden Becher an die Lippen, blies vorsichtig über die verlockend duftende Flüssigkeit und nahm dann einen kleinen Schluck.
„Zum Wohl“, prostete sie der kleinen Meise zu, „das tut gut, das weckt die Lebensgeister.“
Der nächste Schluck war schon wesentlich größer als der erste, der zweite noch intensiver und im Nu war der Becher leer. Der heiße Glühwein, angemacht mit Zimt und Rum, fand seinen Weg Mutters
Kehle hinunter und erwärmte ihren Körper.
„Ah, herrlich“, dachte sie, „warum sollte ich nicht noch ein kleines Schlückchen nehmen?“
Sie füllte erneut den Becher mit Glühwein und trank ihn trank ihn in einem Zug aus. Ein lautes Aufstoßen drang aus ihrem Mund und sie schaute sich erschrocken um.
„Noch niemand da? Na, dann kann ich ja noch ein Schlückchen probieren“, sagte sie halblaut zu sich selbst. Der Vogel, der immer noch auf dem Tannenzweig saß und sie erwartungsvoll anschaute,
sollte auch nicht zu kurz kommen. Mit schon etwas fahrigen Bewegungen tastete Mutter nach einer weiteren Blätterteigschnecke, die letzte, wie sich herausstellte, und warf sie in einem Stück unter
die Tanne.
„Für disch, mein Freund“, nuschelte sie, „kannst ja der Tanne etwas abgeben!“
Sie nahm den letzten Schluck Glühwein aus dem Becher - und verdrehte die Augen.
„Ups, mir ischt ein bisschen schwindlich“, sagte sie zu sich selbst. „Ich werde ma nach dem Rechten sehn!“
Doch dazu kam sie nicht mehr. Das Aufstehen fiel ihr zu schwer. Bei jedem Versuch geriet die Schonung in Schieflage, und sie sank wieder unsanft auf dem Baumstumpf. Sie schloss resignierend die
Augen und versuchte ihr Dilemma zu verstehen.
Sie hatte noch nicht lange versucht nachzudenken, da brach es aus dem Unterholz hervor. Unter lautem Grölen und Lachen zogen Peter
und seine Freundin und aus der anderen Richtung Peters Bruder und Vater jeweils eine gefällte Tanne hervor und legten sie vor Mutter ab. Die kleine Meise brachte sich flugs auf einer weiter
entfernten Tanne in Sicherheit.
„Geschafft“, freute Peter sich, „jetzt kann Weihnachten kommen!“
„Aber zuerst wollen wir uns mit Schnecken und Glühwein stärken“, meinte Vater und ging zum Picknickkorb. Er balancierte einen Becherturm hervor und holte die Thermoskanne heraus.
Verblüffte stellte Vater fest: „Die ist aber leicht. Ist da überhaupt noch etwas Glühwein drin?“
Nach Schütteln und Aufschrauben des Deckels drehte Vater die Flasche um, und ein einzelner Tropfen Glühwein löste sich vom Rand und fiel zu Boden, wo er gleich zwischen den Tannennadeln
verschwand. Vaters Blick wanderte fragend zu Mutter, die etwas zusammengesunken auf dem Baumstumpf saß und nichts sagte.
„Mutter, hast du etwa ...?“, fragte er tadelnd und hielt ihr die leere Kanne unter die Nase.
„Is woll umgekipp“, nuschelte Mutter etwas unverständlich.
„Und die Blätterteigschnecken sind auch alle weg!“, rief Peters Freundin in dem Moment überrascht aus. „Nur dort, unter der verkrüppelten Tanne liegt noch eine. Die scheint aber angeknabbert zu
sein.“
Peter, seine Freundin, sein Bruder und Vater, alle schauten Mutter fragend an.
Diese machte ein erbärmliches Gesicht und wollte sich geradezu in ihrer dicken Jacke verkriechen. Doch dann brach es in einem Redeschwall aus ihr hervor:
„Wenn ihr mich auch so lange alleine lasst, und ich friere und traurig bin! Was sollte ich denn da machen? Da hab ich mich mit meinem neuen Freund, der Meise, und dem kleinen Tannenbaum
unterhalten, und dann haben wir zusammen Picknick gemacht und ...!“
Weiter kam sie nicht, denn Tränen rannen ihr die Wangen herunter. Unter Schluchzen brachte sie noch hervor: „Tut mir leid!“
Vater ging zu ihr, nahm sie in den Arm und tröstete sie. Die anderen nahmen die beiden gefällten Bäume und den Korb auf, und alle gingen schweigend zu ihren Autos, die am Rande der Schonung
parkten. Auf dem kurzen Weg dorthin drehte Mutter sich, gestützt von Vater, noch einmal um und rief:
„Tschüss Meischen, tschüss meine kleine Tanne! Vielleicht bis zum nächsten Jahr!“
Eine Woche später, am Heiligen Abend, stand eine kleine, verkrüppelte Tanne auf einer Tannenschonung und hatte als einzige einen mit Weihnachtskugeln behangenen Ast, auf dem eine einzelne brennende Kerze das Dunkel der Nacht erhellte. Eine kleine Meise saß etwas abseits und wunderte sich.